Dieser Beitrag ist erschienen in der Zeitschrift DIE GEMEINDE 19/2021
Kurz vor der Bundestagswahl 2009 besuchte ich einen evangelischen Gottesdienst im sächsischen Vogtland. Kurz vor Ende des Gottesdienstes hat der Kirchengemeinderat die Gottesdienstgemeinde gebeten, sich an der anstehenden Wahl zu beteiligen. Dieser Bitte folgte der dringende Appell, der heute wohl so formuliert würde: „Sie können jede Partei wählen, die sich zur Wahl stellt. Sie gründen auf dem Fuß unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Doch bitte wählen Sie nicht die NPD, denn diese Partei ist Gegner unserer Demokratie und unserer Gesellschaft.“ Mir gingen mehrere Gedanken durch den Kopf. Zum einen fand ich die Ansage mutig und kann sie inhaltlich voll unterstützen. Gerade in Sachsen hatte zu dieser Zeit die NPD einen hohen Zulauf. Zugleich hat mich die Ansage ins Nachdenken darüber gebracht, wieviel Politik in der Kirche oder Gemeinde sein darf oder sollte. Auf jeden Fall hat die Ansage Eindruck auf mich gemacht.

Zwei Überzeugungen sind für mich unumstößlich: (1) Das Kerngeschäft der Gemeinde ist die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus in Wort und Tat und (2) Kirche und Staat sind und bleiben voneinander getrennt. Doch ist damit alles gesagt? Auf den ersten Blick lässt sich mit den beiden Sätzen durchaus ableiten, dass Gemeinde nicht den Auftrag hat, Politik zu betreiben oder politische Themenfelder zu bearbeiten, weder in der Verkündigung noch in ihrem Gemeindeleben. Das hieße: „Gemeinde kümmert sich um das Seelenheil, der Staat um gesellschaftliche Fragen“. Gemeindealltag sieht aber manchmal anders aus:
Da ist ein Gemeindemitglied, dass sich aus einer Nachbargemeinde zu uns überweisen lässt, weil es ihm in der Gemeinde „zu politisch“ geworden ist. Es sei „von vorne“ festgelegt worden, welche politische Meinung Christ*innen zu vertreten und für welche Themen sie sich stark zu machen hätten. Dem wollte er entfliehen. Auf der anderen Seite würde er sich über die soeben gebrauchte gendergerechte Schreibweise aufregen und hatte auch schon den Vorschlag gemacht, die Gemeinde solle sich gegen deren Nutzung stark machen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr eine Gemeinde in ihrem Bestreben, politische Orientierung geben zu wollen, als übergriffig empfunden werden kann. Zugleich zog auch der „Flüchtling“ zu einem Thema politisch Stellung, das ihn stört, und wollte die Gemeinde für seinen Standpunkt gewinnen.

Da ist ein weiteres Gemeindemitglied, dass seinen Dienst als Gemeindebriefredakteur aufgibt, weil in manchen Artikeln das Gendersternchen vorkommt. Dies habe als politisches, nicht geistliches Statement im Gemeindebrief nichts zu suchen. Andererseits engagiert er sich beim „Marsch fürs Leben“, der sich gegen Abtreibung einsetzt, und begründet dies mit seinen Glaubensüberzeugungen. Da bleibt mir zu fragen: „Wenn doch gendergerechte Sprache ein ausschließlich politisches Thema sein soll und nicht in die Gemeinde gehöre, wie passt es dann, dass du dich aus deiner Glaubensüberzeugung heraus politisch engagierst und auch in der Gemeinde mit Leuten darüber sprichst?“
In beiden Beispielen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass Gemeinde nur dann politisch agieren dürfe, wenn sie dabei die eigene Meinung vertritt. Wird dagegen eine andere Meinung geäußert, kommt die Aussage: „Politik hat in der Gemeinde nichts zu suchen!“ Ähnliche Beobachtungen habe ich gemacht bei Fragen wie der Einführung der „Ehe für alle“ oder der Diskussion um das Verschleierungsverbot für Muslima. Während die einen sich hier ein klares Statement wünschen, kontern die anderen mit Themen wie Klimaschutz und Flüchtlingshilfe. Da knirscht es schonmal im Gemeindegetriebe.

Meines Erachtens lassen sich Gemeinde und Politik unterscheiden, aber nicht voneinander trennen. Wir sind sowohl als einzelne Gläubige als auch als Gemeinde Teil der Gesellschaft. Uns berühren politische Themen, manche mehr, manche weniger. Und so, wie z.B. die einen aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus am „Marsch fürs Leben“ teilnehmen, setzen sich andere für den Klimaschutz ein und nennen es „Schöpfung bewahren“. Und ich gehe davon aus, dass ich nicht die einzige Person bin, die sich bei ihrer politischen Wahl an ihren Glaubensüberzeugungen orientiert.
Wie gehen wir als Gemeinden also mit Politik um? Ich erachte zwei Hinweise als wichtig: (1) Wenn ein politisches Thema Menschen in der Gemeinde bewegt, kann und sollte es auch in der Gemeinde angeschaut werden. Denn so, wie wir von Gott Leitung und Korrektur für unseren Glauben erwarten, kann er uns auch Impulse für diese Fragen geben. Dazu kommt für mich (2) der „prophetische Auftrag“ der Gemeinde. So, wie die Propheten des Alten Testaments Gottes Sicht zum politischen und geistlichen Wirken Israels dargebracht haben, so können wir gesellschaftliche Themen aus biblischer Sicht beleuchten und darüber in den Diskurs einsteigen. Wichtig ist mir in beiden Fällen der offene Dialog und die gegenseitige Wertschätzung im Diskurs. Denn wie bei vielen anderen Themen gibt es in unseren Gemeinden unterschiedliche Ansichten, die das Recht haben, gehört und ernstgenommen zu werden. Wenn wir offen in den Austausch gehen, besteht die Chance, Weitblick zu gewinnen und in Liebe zueinander zu wachsen.